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klassische Stimmbildung <-> funktionale Stimmentwicklung

Das Problem

Stimmbildung ist die Kunst, Kontrolle über ein Organsystem zu erlangen, dessen Bestandteile größtenteils unwillkürlich reagieren.

Um diesem Widerspruch zu begegnen, werden häufig bildhafte Vorstellungen und mechanistische Anweisungen gebraucht (Nasenresonanz, Singen in die Maske, Gaumensegel heben, Bauch einziehen/herausdrücken).

Dabei werden Ursache und Wirkung verwechselt: Beispielsweise sind Vibrationsempfindungen und Empfindungen im Rachenraum und Rumpf beim Singen Folge einer guten Gesangstechnik, können aber im Umkehrschluss nicht ohne weiteres eine gute Stimme erzeugen. Sie sind also das Ergebnis und nicht der Ausgangspunkt.

Es existieren viele Mythen zu Nutzen und Schaden bestimmter Gesangsübungen, die auf wissenschaftlichem Halbwissen beruhen. Diese Mythen verhindern eine effiziente Stimmentwicklung und können zu einem Stimmgebrauch führen, der gekünstelt klingt.

Erfolge sind bei oben beschriebenen Vorgehensweisen nicht vorhersagbar. Viele Gesangsbegeisterte sehen den Fehler bei sich selbst und verlieren den Glauben an das eigene Talent. Oder aber sie erkennen den Fehler in der Lehrmethode und sie wechseln wiederholt Lehrer/Lehrerin und es folgt eine Enttäuschung auf die andere.

Die Lösung

Dagegen steht die klassische Gesangsschule des 17.-19. Jahrhunderts: Die Stimme ist ein Organsystem, das sich selbst reguliert. Sie besteht aus zwei Grundfunktionen („Register“, Brustregister und Falsett). Diese werden gezielt einzeln gekräftigt und dann in ein günstiges Gleichgewicht gebracht. Dies geschieht durch einfache Tonfolgen auf geeignete Vokale (a, e, i, o, u). Die Struktur der Übung ruft eine vorhersagbare Reaktion der Stimme hervor. Dadurch kann je nach Kombination aus Tonhöhe, Lautstärke und Vokal gezielt eine Funktion isoliert und gekräftigt werden oder aber auch beide Funktionen in ein neues Gleichgewicht zusammengeführt werden.

Die Prinzipien dieser Stimmbildungsmethode wurden von Cornelius L. Reid (1911-2008) unter dem Namen „Funktionale Stimmentwicklung“ systematisch beschrieben. Im Grunde handelt es sich um eine handwerklich-künstlerische Tradition, wie Geigenbau und Ballettausbildung, die aber heute nur von wenigen Personen beherrscht wird. Entscheidend ist, dass die lehrende Person ein geschultes Ohr und ein tiefes Verständnis für die funktionalen Prinzipien der Gesangsstimme besitzt. Voraussetzung für die lernende Person ist Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Konzepten und Veränderungen.

Talent, eine „schöne“ Stimme und Musikalität können helfen, sind aber in keinem Fall Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer ausdrucksstarken und belastbaren Gesangsstimme.

 

vorher-nachher Bariton-Schüler:

Vertiefung

Beim Singen sind immer beide Grundfunktionen (Register) aktiv. Bei hohen Tönen dominiert dabei die Falsett/Kopfstimmfunktion, bei tiefen Tönen das Brustregister.

Zu Übungszwecken kann man aber die beiden Funktionen isoliert trainieren.

Isoliert weisen die beiden Register folgende Eigenschaften auf:

Falsett:

  • Umfang: h-h´
  • hauchiger, hohler Klang
  • reagiert besonders auf den Vokal U


 

Brustregister:

  • Umfang: unterer Bereich des Stimmumfangs, höchster Ton e´
  • grober, rauer Klang
  • reagiert besonders auf den Vokal A


 

Isoliert haben die beiden Funktionen im klassischen Gesang wenig ästhetischen Wert, sind zur Stimmentwicklung aber sehr hilfreich. Führt man sie durch geeignete Übungen wieder zusammen, kann eine ausgeglichene, klingende Stimme entstehen.

Historisches

Die klassische Gesangstechnik entwickelte sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts und ist eng mit der Entstehung der Oper verknüpft. Die Entdeckung, dass die beiden Stimmregister entwickelt und verbunden werden können, ermöglichte es, der Stimme zu nie dagewesenen Ausdrucksmöglichkeiten zu verhelfen. Umfang der Stimme, Lautstärke, Beweglichkeit und emotionale Differenzierung nahmen neue Dimensionen an. Dies inspirierte die Komponisten des Barock zu überbordenden Vokalkompositionen und läutete das Belcanto-Zeitalter ein. Auch die Musik der Klassik, Romantik und des Verismo sind nur mit dieser Gesangstechnik angemessen zu singen.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen neue Gesangsmethoden auf. Man hoffte, schnellere Ergebnisse durch innovative Ansätze zu erlangen. In den 60er und 70er Jahren führte dann die Verbreitung von Studioaufnahmen dazu, dass sich unrealistische Klangvorstellungen von Gesangsstimmen verbreiteten. Man erwartete im Opernhaus nun Stimmklänge, die im Tonstudio mithilfe von Verstärkern einfach zu erzeugen sind, die in einem großen Opernhaus aber ohne Verstärker nicht wirkungsvoll möglich sind. Dies alles führte dazu, dass die Klassische Ausbildung auf Grundlage der beiden Grundfunktionen an Bedeutung verlor. 

Vielerseits wird heute daher beklagt, dass die großen Opern nicht mehr angemessen gesungen werden. Operngesang klingt für viele Menschen heute oft gekünstelt und schwer verständlich. Dennoch gibt es auch heute noch Sängerinnen und Sänger, die entweder durch eine gute Ausbildung oder aber natürliche Veranlagung das Publikum nicht nur in Staunen versetzen, sondern durch ihre Stimme tief berühren und begeisteren.

© 2024 Jonas Hadizadeh

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